Die Hainich-Saga - von Matthias Kaiser - Drittes Kapitel

Stachelbeeren –  die verkannten Genies

Eigentlich spielten Stachelbeeren bei meiner Ernährungsplanung eine eher untergeordnete Rolle.

Womit ich nahtlos an alte Familientraditionen anknüpfte, denn auch meine von mir so oft zitierte und über alles geliebte Großmutter Nelly begegnete diesen Früchten mit derselben Zurückhaltung wie ein Vegetarier gegenüber einem Rib-Eye-Steak auf der Speisekarte eines Steakhauses, in das er sich auf der Suche nach Chlorophyll leichtsinnigerweise verirrt hatte.So ist es vielleicht auch zu erklären, weshalb die beiden Stachelbeersträucher in Nellys hinterster Hausgartenecke ein mehr als bescheidenes Dasein fristeten. 

Ich kann mich gut erinnern, dass sie derart altersgrau und schorfig aussahen, wie die Mauern einer mittelalterlichen Burgruine.

Was diese Sträucher aus der Gattung Ribes, zu der unter anderem auch die Johannisbeeren zählen, aber keinesfalls daran hinderten, diesen deutlichen Liebesentzug mit unglaublicher Blühfreude und Fruchtbarkeit zu belohnen, was die sparsame Hausfrau Nelly jeden Juli zwang, sich mit ihren zugegebenermaßen vielleicht etwas zu groß geratenen Händen durchs stachlige Geäst zu arbeiten, um die reifen Früchte zu bergen. Sie dort hängen zu lassen, hätte sie als Frevel an der Natur gewertet.

Mehrere Kilo erntete sie also jährlich auf diese schmerzhafte Art, kochte stets aus der einen Hälfte Marmelade und pferchte die andere Hälfte völlig überzuckert in hohe Einweckgläser, die dann als eiserne Reserve regelmäßig in der dunkelsten Ecke unseres Kellers einer düsteren Zukunft entgegen dämmerten. Das konnte unter Umständen so lange andauern, bis die Früchte nach und nach die Farbe von grauen Kirchenmäusen annahmen. Und die meine Großmutter letztlich – um mit dem Kapitel ‘Nelly und die Stachelbeeren‘ endgültig abzuschließen ­– nur noch den damals (ich spreche von den 50-zigern des vorigen Jahrhunderts) zahlreichen schnurrenden Haustieren als Spende oder den nicht ganz so stürmisch zugeneigten Verwandten als Kompott – oder schlimmer noch, als herzliches Giveaway (damals noch nicht geläufig) anbot. Was beide Parteien in den meisten Fällen, nur mühsam die Contenance wahrend, dankend ablehnten.

Der Marmelade hingegen schenkten selbst wir Kinder mehr Aufmerksamkeit. Was diese schlichtweg dem Umstand verdankte, dass Nelly stets einige Erdbeeren aus unserem Garten unter die Stachelbeeren mischte. Kurz - der distanzierte Umgang meiner Familie mit Stachelbeeren ähnelte einem Trauerspiel.

Kann sich unter diesen Voraussetzungen jemand vorstellen, welche Gefühle in mir aufstiegen, als mich der TUPAG-Vorstand vor ein paar Wochen bat, doch mal etwas über die Stachelbeer-Verarbeitung bei der Hainich Konserven GmbH zu schreiben?

Als ich mich Anfang Juli, an einem frühen Dienstagmorgen Richtung „Blaues Wunder“ in Oberdorla in Bewegung setzte, hatte sich – wieder mal Myrphys Gesetz bestätigend – das Wetter meiner Stimmungslage angepasst: es war trüb und es nieselte. Dieses hellte sich aber schon ein wenig auf, nachdem ich mich die steile Betonhühnerleiter emporgehangelt hatte (erneut so ein architektonischer Fauxpas wie das „Blaue Wunder“ insgesamt), denn ich stand plötzlich vor einem Flipchart, auf dem ich namentlich willkommen geheißen wurde. „Durchaus üblich bei uns - diese persönlichen Ansprachen“, erläuterte mir Geschäftsführer Stefan Behrendt. „So eine Begrüßung fördert die kommunikative Lockerheit.“ Leider nahm mir die Corona geschuldete Distanz die Möglichkeit, mich mit einem ordentlichen Händedruck zu bedanken. Doch blieb es nicht bei derartigen Floskeln. Ehe ich mich versah, schob mir Geschäftsführer Behrendt ein DIN A4 Blatt zu, auf dem ich nicht nur meine persönlichen Daten und den Grund meines Besuches vermerken sollte, sondern auch meinen körperlichen Zustand offenbaren musste, besonders im Hinblick auf eventuelle Unstimmigkeiten hinsichtlich des Magen-und Darmtraktes. Was im Hinblick auf den Wunsch, die Produktion eines lebensmittelverarbeitenden Betriebes betreten zu dürfen, nicht nur üblich, sondern unerlässlich ist. So unerlässlich, wie der weiße Kittel, in den ich schlüpfen musste und das Häubchen, das mir der Behrendt auf den Kopf stülpte und in dem ich wahrscheinlich so genervt aussah, wie eine erschöpfte Hebamme nach einer schwierigen Steißgeburt. Jedenfalls lächelte jeder, der uns begegnete. Immerhin haben die Mitarbeiter zwischen Unmengen von Stachelbeeren ihren Humor nicht verloren.

Doch etwas ernster weiter.  Allein diese konsequente Umsetzung unerlässlicher Hygienevorschriften verstärkte noch meine Sympathie zu jenen ausgewählten Hainich Konserven, mit denen ich seit Jahrzehnten mein tägliches, vorwiegend aus Frischware zusammengesetztes, Nahrungsrepertoire sinnvoll und vor allem zeitsparend komplettiere. Man stelle sich nur vor, man müsse jede saure Gurke, bevor man sie beispielsweise im Thüringer Heringshäckle verarbeitet, erst einmal einlegen?  Allein an die Vorplanung, zu welchem Zeitpunkt ich sie in welcher Menge verarbeiten möchte, will ich gar keinen Gedanken verschwenden. Und Hainich-Stachelbeerkonserven? Ehrlich: die hatte ich mir bis dato geschenkt, pardon: aufgehoben. Der Rundgang durch die Produktionshalle ähnelte dann auch einer Exkursion durchs Deutsche Hygienemuseum Dresden. Alles pieksauber und das ständige Rauschen des Wassers, in dem sich einige Wochen lang im Jahr täglich bis zu 60 Tonnen Stachelbeeren räkelnd säubern, erinnerte an das Plätschern eines kristallklaren Bachlaufes. „Sechzig Tonnen“ stöhnte ich ungläubig. „Wer pflückt die denn? Und vor allem wo?“ „Die werden in Polen angebaut“, erwiderte Geschäftsführer Behrendt genervt. Ein leises durchschimmerndes „Geh mir nicht…“, klang da mit, was ich weniger meiner Neugier, als seiner Norddeutschen Herkunft zuschrieb. Es ist halt nicht jedem gegeben, einem so um den Hals zu fallen, wie ein italienischer Gastwirt seinen Lieblingsgästen. Als wir an der Endstation der Reinigungs- und Sortieranlage angelangt waren, wartete schon Maik Schlinz auf uns, der als Prozessleiter nicht nur ein wachsames Auge auf den reibungslosen Ablauf, sondern auch letztmalig auf die Qualität der Früchte werfen muss. Gemeinsam mit Geschäftsführer Behrendt trat er ans Band und beide nickten beim Anblick der fein säuberlich gewaschenen Beeren zufrieden.

„Können ins Glas“, forderte Maik Schlinz zwei junge Frauen – Maria und Gabriele – auf, die den Stachelbeerfluss mit den Händen in Richtung Einfüllstation lenkten. Überhaupt ist Handarbeit bei der Konservenproduktion überhaupt nicht wegzudenken. Für alle Mitarbeiter eine körperliche Herausforderung. Allein der Gedanke, über Stunden hinweg die Hände in kaltem Wasser bewegen zu müssen, machte mir Angst. „Und das Pflücken, Herr Behrendt?“, fragte ich vorsichtig, um nicht erneut mit meiner Forschheit ins Fettnäpfchen zu treten. „Geht das maschinell überhaupt in Anbetracht der sensiblen Struktur bei Stachelbeeren?“ Geschäftsführer Behrendt versöhnlich: „das muss natürlich von Hand geschehen.“ Ich dachte mit Grausen an die von Stacheln zerschundenen Hände tausender Mütter und Großmütter in Polen. Nahm ich doch an, dass es vor allem dem weiblichen Geschlecht vorbehalten ist, sich dieser qualvollen Aufgabe zu stellen. Männer sind da eigentlich viel zu zimperlich. „Doch auch da kann ich Sie beruhigen. Inzwischen werden Stachelbeeren ohne Stacheln gezüchtet, die sogar derart optimiert sind, dass sie alle gleichzeitig reifen.“ Nicht die letzte Lektion hinsichtlich der Stachelbeeren an diesem Tag.

Auf meine Bitte hin, überließ mir Geschäftsführer Behrendt eine kleine Kiste mit handverlesenen Beeren, aus der ich zu Hause Marmelade kochen wollte, um meine Leser mit dem dazugehörigen Rezept zu ein paar besinnlichen Stunden bei der Marmeladenherstellung zu animieren. Ich wollte, heimgekehrt, auch schon damit beginnen, sie vier Minuten lang mit 1:1  Gelierzucker aufzukochen, als mein Freund und Namensvetter Matthias plötzlich zu einem Blitzbesuch in meiner Küche einflog. Kaum sah der gelernte und vor allem praktizierende Bäcker mein Vorhaben, entriss er mir die Kiste und wetterte: „Bist Du wahnsinnig. Diese schönen Beeren. Wenn ich morgen früh aus der Backstube komme, backe ich Dir daraus eine Baiser-Torte.“ „Baiser-Torte“? fragte ich. „Mit Stachelbeeren?" Es ging fantastisch und war derart geschmacksintensiv, dass ich zwei Tage später zwei Gläser Stachelbeeren kaufte, um mich selbst erstmalig an dieser Delikatesse zu versuchen. Zum Rezept geht´s hier: www.hainichkonserven.de

Nur so viel: Stachelbeeren gehören jetzt auch zu meinen Freundinnen. Und von denen kann man erfahrungsgemäß nicht genug haben.

Viel Spaß beim Pflücken, Backen und natürlich auch Marmeladekochen

wünscht Ihnen

Ihr Matthias Kaiser