Die Hainich-Saga von Matthias Kaiser - Zwölftes Kapitel

Was du ererbt von deinen Müttern, erwirb es, um es anzuwenden - sehr frei nach Goethe

Mein Nachbar Ricardo ist von Kindesbeinen an sehr von sich überzeugt . . . und stolz! Was übrigens völlig im Einklang mit der Bedeutung seines Namens steht. Er bekleidet eine lukrative Position in der freien Wirtschaft, die ihm ein auskömmliches Leben beschert. Als ich ihm erstmals begegnete, schwärmte Ricardo, von allen nur Rico genannt, stolz von seinem schuldenfreien Eigenheim, seinem erstklassig gepunkteten Dalmatiner Rüden, seiner netten Ehefrau und seinen zwei ‚allerliebsten‘ Töchterchen – Zwillinge. Übrigens genau in dieser Reihenfolge.

Besonders stolz präsentierte er mir sodann ein Kochbuch der berühmten Kochbuchautorin Henriette Davidis mit dem Untertitel:

„Praktisches Kochbuch. Zuverlässige und selbstgeprüfte Recepte der gewöhnlichen und feineren Küche. Practische Anweisung zur Bereitung von verschiedenartigen Speisen, kalten und warmen Getränken, Gelees, Gefrornem, Backwerken, sowie zum Einmachen und Trocknen von Früchten, mit besonderer Berücksichtigung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen.“

Noch am selben Abend unserer ersten Begegnung prahlte er, das Büchlein sei eine von Generation zu Generation vererbte und von Sammlern antiker Kochbücher besonders begehrte Erstausgabe aus dem Jahre 1845. Wahrscheinlich wollte er mir, der ich seit Jahrzehnten Restaurantkritiken veröffentlichte und auch ein wenig koche, imponieren und mich in einem Akt der Reviermarkierung umgehend in meine kulinarischen Schranken verweisen. Wie sich später herausstellen sollte, auch mit der Absicht, dass ich ihn sowohl als wahrhaftigen Hüter der Lehren von Lukullus und getreu dem Motto: „Was du ererbt von deinen Müttern…“  als auch als Bewahrer der traditionellen Deutschen Herzblutküche anerkenne. Über seine praktischen Erfahrungen hingegen, vor allem mit der Zubereitung historischer Speisen, breitete er jedoch den Mantel des Schweigens. Was mich doch einigermaßen verwunderte, betont er doch stets, wie wichtig es sei, dass man die traditionelle Küchenkultur bewahre.

Leider geriet sein Nimbus vor Kurzem mächtig ins Wanken.

Alles begann, als sich Ricardo vor dem letzten Weihnachtsfest endlich seinen lang ersehnten Traum einer mit allen Raffinessen ausgestatteten Luxusküche erfüllte. Als die Monteure nach schleppendem Einbau endlich verschwunden waren, nahm sich Ricardo einen Stuhl und setzte sich zufrieden in den mit Granit veredelten Schleiflackpalast. Sinnierte, mit welchem Traditionsgericht er jetzt, kurz vor Festtagen, sein neues Refugium einweihen könnte. ‚Gänsebraten‘, durchfuhr ihn die Erleuchtung. Zugegebenermaßen nicht die schlechteste Wahl; handelt es sich doch um eines jener Kultgerichte, mit denen schon seine Vorfahren Leib und Seele stärkten.

Gedacht – getan, schlug er voller Elan eine ebenfalls von seinen Ahnen ererbte, überarbeitete Davidis-Ausgabe Jahrgang 1910 auf und los ging‘s mit Karacho: Wenig Wasser in den natürlich gusseisernen Bräter, Wurzelgemüse, Beifuß; Gans rundum gesalzen und ab in die kräftig vorgeheizte Röhre.

Nach zwei Stunden riss er erwartungsvoll die Röhre auf und . . . binnen dreier Sekunden war die nigelnagelneue Küche in beißende Rauchschwaden gehüllt. Und in der Pfanne lag ein qualmender Gesteinsbrocken, der ihn augenblicklich an den Vulkanausbruch erinnerte, der seinerzeit seine Lieblingsinsel La Palma verwüstete.

Plötzlich kam Ricardos Stolz bedenklich ins Schwanken und fieberhaft, von fürchterlichem Reizhusten begleitet, versuchte er die Ursache dieser kulinarischen Katastrophe zu ergründen. Verfluchte zuerst den Pfusch des Elektroherd-Herstellers; zweifelte sodann am handwerklichen Vermögen der Installateure um hegte zuletzt sogar den beunruhigenden Verdacht, dass seine sündhaft teure Bio-Landgans vielleicht sogar ein mit Wachstumshormonen verseuchter China-Import war.

Der Gedanke hingegen, die Schuld bei Henriette Davidis oder ganz und gar bei sich selbst zu suchen, kam ihm dagegen zu keiner Zeit. Wie heißt doch der Werbeslogan? ‚Hätte er mal lieber einen Fachmann gefragt.‘

Erst nach dem Durchspielen aller möglichen Ursachen seines Misserfolgs, hatte er, sicherlich mit größter Überwindung, zum Handy gegriffen und mich angerufen: „Komm doch bitte mal rüber. ‚Houston, ich habe ein Problem‘“, versuchte er seine Verzweiflung mit diesem Kalauer zu überspielen. Als ich einige Minuten später seine qualmdurchflutete Küche betrat, eilte ich erst einmal zum Fenster und riss es auf. „Du hast wirklich ein Problem, Rico. Kein Houston-, sondern ein Hustenproblem. Warum hast Du nicht wenigstens gelüftet?“, ging ich auf sein Dilemma ein, um der eigentlich lächerlichen Situation etwas von seiner unnötigen Dramatik zu nehmen. Als ich ihn näher betrachtete, erübrigte sich die Antwort:  Der Schock hatte den schönen Ricardo gelähmt.

Nur wenige Augenblicke später erkannte ich schnell, was passiert war. In seinem nostalgischen Drang, das Davidis-Gänsebraten-Rezept originalgetreu nachzukochen, hatte der stolze Rico einfach übersehen, dass die berühmte Kochbuchautorin in einer Zeit lebte, als es noch keine Tiefkühltruhen gab und. . .  die teure Gans tiefgefroren ins Rohr geschoben. Worauf sich Hitze und Kälte in der Röhre ein Gefecht lieferten, bei dem sowohl die Gans als auch der Stolz des Ricardo als Opfer auf der Strecke blieben.  Um dem alten Sprichwort, ‚des einen Freud, ist des anderen Leid‘ nicht Futter zu geben, möchte Ihnen und mir weitere Ausführungen ersparen. Meine kleine Anekdote nur dahingehend ergänzen, dass Ricardo zur Gans natürlich Thüringer Klöße und Rotkohl servieren wollte.

Deshalb gestatte ich mir, Ihnen zu meinem Gänsebraten-Rezept auch mein ererbtes Kloßrezept hinzuzufügen.

Dem schönen Ricardo möchte ich an dieser Stelle den Rat geben, dass er beim Rotkohl auf eine Konserve zurückgreifen sollte. In Anbetracht der Davidis-Rezeptur: Man schneide den herzhaften Rotkohl in mittelstarke Streifen...Angesichts seiner etwas eingeschränkten Kocherfahrungen, wäre das für die Unversehrtheit seiner Hände sicherlich vorteilhafter.

Für jeden, der das Geheimnis der Thüringer Klöße (auch „Rohe Klöß“, „Griene Kließ“, „Ruahne Hütes“ oder „Hebes“ genannt) erforschen will der umgangssprachliche Hinweis: Klöße werden in Thüringen "gemacht" – nicht gekocht, geköchelt oder gar kreiert. Jeder handgemachte Kloß in Thüringen ist ein Unikat und kein Exemplar gleicht dem anderen. Weder in Geschmack noch im Aussehen. Damit ist der Thüringer Kloß einer der letzten freiheitlichen Bastionen im gesellschaftlichen Gefüge des Freistaates und sogar die hartnäckigsten Versuche, ihn durch Paragraphen oder Verordnungen zu normieren, sind in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten kläglich gescheitert. Selbst beharrlichste, vom Normierungswahn beherrschte Beamte und standartisierungswütige Controller verzweifelten an der flauschigen Thüringer Delikatesse. Womit es auch nicht gelungen ist, einen genetischen Fingerabdruck des Kloßes zu erstellen, was zugegebenermaßen die Fahndung nach dem „echten“ Thüringer Kloß sichtlich erschwert, denn den gibt es nicht!

So also schweben an den Herden Thüringens jeden Sonntag frische Generationen von delikaten Klößen an die Oberfläche riesiger Töpfe und versetzen ihre Macher in einen wahren Schöpfungsrausch – wenn der Kloß hält.

Fällt er indes auseinander, rösten die ganz Schlauen geschwind Speckwürfel und Zwiebel und tragen ihren Sonntagsbraten mit dem Hinweis auf, dass es heute mal keine Klöße, sondern Kartoffelpüree gebe. Die meisten Versager aber warten, erfüllt von maßloser Trauer, bis zum nächsten Wochenende, um sich erneut dem Kloß zu stellen, der mittlerweile längst so polarisiert ist, dass er zum Gegenstand zahlreicher philosophischer Betrachtungen wurde.

Eingefleischte Kloßesser (allein diese Kombination ist eine Provokation) sind oberflächlich betrachtet also radikale Dogmatiker, aber en détaille besehen, verehren alle etwas Grundverschiedenes.

Noch ein allerletzter wichtiger Hinweis an dieser Stelle: Mundartliche Feinheiten lasse ich in mein Kloßrezept nicht einfließen und auch skurrile Gewohnheiten der verschiedenen Regionen des Freistaates bleiben außen vor. „Fremme“ oder „Zug‘reischte“ nämlich hätten allein schon bei der Antwort auf die Frage, wie viele Klöße man pro Kopf rechnen soll – „zu viel’ Kließe gibtsch nimmer, hechstenz ze schwache oder ze wensche Esser“ – überhaupt keine Chance mehr, jemals auch annähernd so etwas Reinem und Vollkommenem, wie dem Kloß, zu begegnen.