Die Hainich-Saga von Matthias Kaiser - Fünftes Kapitel

Die sinnliche Begegnung mit einem unwiderstehlichen Rindvieh

Nach langer Zeit durfte ich endlich wieder einmal einen jener Bilderbuchtage erleben, die im Leben eines Menschen so rar sind, dass man aus ihnen auch noch nach Jahrzehnten Kraft schöpfen kann.

Es war ein Sommertag Anfang August 2021. Die milden Strahlen der aufgehenden Sonne versprachen, nach den Wetterkapriolen der Wochen zuvor, endlich mal wieder einen warmen Sommertag. Als ich mir wie gewohnt gegen 5.00 Uhr früh einen Kaffee kochen wollte, folgte die zweite Überraschung, denn mein Sohn Philipp verwöhnte mich ­– für ihn sicherlich zu nachtschlafender Zeit – mit einem prächtigen Frühstück. Doch es ging an diesem Tag Schlag auf Schlag weiter, denn auf meinem Weg von Erfurt in die Vogtei, genauer gesagt nach Niederdorla, hielt mich erstaunlicherweise weder eine Umleitung noch ein Stau oder eine jener lästigen Baustellen auf, die gewöhnlich eine Fahrt von Erfurt nach Mühlhausen zur quälenden Tortur werden lassen. Als dann selbst die Schranken vor Höngeda auf Durchfahrt standen, begann meine Laune Purzelbäume zu schlagen. Wegen der problemlosen Anfahrt, natürlich viel zu früh, traf ich kurz vor halb neun in Niederdorla ein und enterte die fünf Betonstufen, die in den Bürotrakt der TUPAG Agrar GmbH führen, mit ungewohntem Schwung, wo ich – wenn auch erst ein gutes halbes Stündchen später – mit Geschäftsführer Sören Reinbeck verabredet war, um mit ihm eine ausgedehnte Tour durch den Hainich zu unternehmen. „Besichtigung der Latifundien und Animales“ hatte ich mir übermütig in mein seit Jahrzehnten unverzichtbares Notizbuch geschrieben. „Höfe und Tiere“. War gespannt, was er mir alles zeigen wollte. Aber auch auf Sören Reinbeck persönlich, den ich bisher nur vom Telefonieren kannte. Vor allem nachdem ich erfahren hatte, dass mit ihm ein waschechter Norddeutscher seit drei Jahren in der Hainich Weiderind GmbH das Sagen hat.  Was bei mir die Frage aufwarf, wie so ein, für seine Schweigsamkeit bekanntes, Nordlicht mit den, ebenfalls für ihre karge Kommunikationsbereitschaft bekannten, Vogteiern zurechtkomme. Nur so viel als Fazit vorweg: prima. Und das erwartungsgemäß ohne großes Palaver.

Als ich, wie angedeutet, etwas verfrüht die Tür zum Büro des Geschäftsführers öffnete, wähnte ich mich für einen kurzen Moment am falschen Ort. Verstreutes Kinderspielzeug am Boden und ein satter schlummernder Säugling im Arm eines sportlichen Mittdreißigers ließen mich vermuten, ich hätte mich in eine jener avantgardistischen Kitas verlaufen, in denen Männer, nicht ganz selbstlos, ihre mütterlichen Gefühle ausleben. „Bleiben Sie“, hielt mich eine feste Stimme zurück, als ich gerade im Begriff stand, eine Kehrtwende einzuleiten. „Sie sind schon richtig hier. Wenn auch etwas zu früh. Macht nichts. Darf ich vorstellen: mein Töchterchen Karlotta, ach ja, und natürlich mich . . . Sören Reinbeck.“ Trotz Corona: Handschlag. Doch manchmal tut es einfach gut, jemanden herzhaft die Hand zu drücken. „Und nun setzen Sie sich schon! Rufe nur schnell meine Frau an. Wenn sie unsere Kleine geholt hat, können wir loslegen.“ Belustigt hatte er meine Irritation registriert und mich überkam plötzlich das Gefühl, dass entgegen aller Vorurteile der norddeutschen Zurückhaltung, in seinen Augen ein kleiner Schalk blitzte.

Nur wenige Augenblicke später betrat Henrike – die Ehefrau von Sören – das zur Teilzeit-KITA umfunktionierte Büro. Ein liebevoller Blick zwischen den beiden, dann die Erklärung. „Meine Frau, die gemeinsam mit mir im Management der TUPAG Agrar arbeitet, befindet sich natürlich noch im Babyjahr. Ab und an ist ihre Anwesenheit als Flächenmanagerin trotzdem unentbehrlich. Dann drückt sie mir unsere Tochter Karlotta und manchmal auch unsere zweieinhalbjährige Mathilde an die Brust und ich erfülle, neben meiner Tätigkeit als Geschäftsführer, zusätzlich meine Pflicht als Kindergärtner.“ Womit sich für mich das am Boden verstreute Spielzeug erklärte.

Wenige Minuten später rollten wir Richtung Hainich. „Ich schlage vor, wir nehmen einen Weg abseits über die Felder. Will Ihnen mal unseren DURUM-Weizen zeigen“, erklärte er und bog, ohne auf meine Antwort zu warten, in den nächsten Feldweg ein. Unterwegs erfuhr ich, dass Sören Reinbeck nach seinem Landwirtschaftsstudium im Jahre 2012, gemeinsam mit seiner damaligen Freundin und heutigen Ehefrau, das Angebot, in einem familiären landwirtschaftlichen Betrieb in Sachsen-Anhalt zu arbeiten, angenommen hatte. Beide hatten sich während ihres Studiums in Osnabrück kennen und lieben gelernt. „Als dritter Sohn eines Landwirtes hatte ich überhaupt keine Chance, den elterlichen Familienbetrieb zu übernehmen. Da herrschen in den alten Bundesländern, und speziell im Norden, noch immer sehr konservative Regeln. Die übrigens auch ihr Gutes haben. Von Kindesbeinen an war mir klar, dass ich Landwirt werden wollte. Das hieß: ab in die Fremde...“ Nach mehreren erfolgreichen Jahren in Sachsen-Anhalt dann wie gesagt, vor gut drei Jahren das Angebot der TUPAG Agrar. Nach kurzem Zögern dann die Zusage. „Es war die Landschaft in Kombination mit den hier lebenden Menschen, die uns letztendlich bewog, unser erfolgreiches Engagement in Sachsen-Anhalt zu beenden.“ 

Wir fuhren an weitläufigen Feldern vorbei, die so gepflegt aussahen, dass sie mich an englische Parkanlagen erinnerten. Bei meinen Vorrecherchen hatte ich gelesen, dass die TUPAG Agrar GmbH rund 1100 Hektar DURUM-Weizen anbaut. Womit sie zu einem der deutschen Big-Player gehört, die dieses Getreide, aus dem ein grießartiges Mehl gemahlen wird, um das sich die Nudelhersteller reißen, anbaut. „Da wurden sicherlich tonnenweise Pestizide gespritzt“, ließ ich meiner Vermutung freien Lauf. Womit ich mir prompt einen bösen Blick einhandelte. „Da gibt es diffizilere Methoden, Herr Kaiser“, belehrte mich der Herr Geschäftsführer und plötzlich war der kleine Schalk aus seinen Zügen verschwunden. An dieser Stelle möchte ich jedoch das Thema Feldfrüchte, Getreide im Allgemeinen und DURUM-Weizen im Besonderen, ein wenig hintenanstellen. Nur erwähnen, dass ich an diesem Tage so ganz nebenbei einen derart umfassenden Einblick in das feldwirtschaftliche Engagement der TUPAG-Holding-AG erhielt, dass ich mich entschloss, diesem Thema ein gesondertes Kapitel zu widmen.

Nach einigen Kilometern Feld- und Wiesenfahrt bogen wir auf die Hauptstraße in Richtung Struppeiche, einem Knotenpunkt, an dem sich mehrere historische Handelswege – unter anderem der Rennstieg – kreuzen. Während eines Kurzbesuches in den Ställen der Agrar GmbH in Nazza, klärte mich Sören Reinbeck über die konkreten Ziele unseres Ausfluges auf: Er wolle mich an die Weiden im Hainich führen, auf denen seit einigen Jahren 9 Rinderherden der TUPAG Agrar stehen. Diese weiden in einem Radius von rund 20 Kilometern auf rund 1000 Hektar, die für den Ackerbau ungeeignet sind, damit sie einerseits Landschaftspflege betreiben. „Anderseits“, so der Geschäftsführer, „wurde hier der Grundstein für eine Limousin-Zucht gelegt, mit der wir perspektivisch vor allem den regionalen Markt mit biologisch erzeugtem hochwertigem Rindfleisch beliefern möchten.“ Der Enthusiasmus seiner emotionalen Erläuterung hatte mir längst bewiesen, dass Sören Reinbeck alles andere als ein norddeutscher Stockfisch war. Nein, er reihte sich nahtlos in jene Garde von Landwirten ein, die ihren Beruf mit Respekt und Liebe zur Natur ausüben; bei denen der Beruf zur Berufung wurde, wobei das Wort „ausüben“ viel zu nüchtern ist. Ich begann die Fahrt mehr und mehr zu genießen.

„Sie haben ein Date“, riss mich Sören Reinbeck in die Gegenwart zurück. „Erst einmal mit Steffen Thomas, unserem Landwirtschaftsmeister, der für die Herden verantwortlich ist und dann . . . na ja, lassen Sie sich überraschen.“ Wir bogen kurz vor Frankenroda auf eine Koppel ein. Was dann folgte, wäre Stoff für eine jener Geschichten wert gewesen, mit denen Hedwig Courths-Mahler vor weit über hundert Jahren ihre Leserschaft in der „Gartenlaube“ begeisterte. Deshalb auch zuweilen die Schilderung meines Dates in ihrem Stil mit einem Schuss Satire. Man muss sich ja treu bleiben.

Es waren diese nachtschwarzen Augen, die mich augenblicklich in ihren Bann  zogen. Dunkel glänzende, feuchte Pupillen, in die ich mich vom Fleck weg so unsterblich verliebte, dass ich weder den Duft des frischen Heus noch das Rauschen der nahen Werra und schon gar nicht das Rascheln der Erlen wahrnahm, die das Spielfeld meiner plötzlichen Leidenschaft säumten. “Spiels noch einmal, Sam“, murmelte ich in das inzwischen gleißende Sirren der mittäglichen Hitze. „ Play it’s again, Sam“, hauchte ich benommen und ließ mich widerstandslos  in das dunkel schimmernde Universum der Lust fallen. Vergaß Raum und Zeit. War plötzlich ganz der leidenschaftliche Humphrey und hauchte fordernd „Schau mir in die Augen, Kleines!“

„Würde Dir raten etwas vorsichtiger zu sein“, störte eine tiefe Männerstimme die Idylle. „Gerade unser Dagobert ist unberechenbar und sicherlich alles andere als ein Schmusebär“, wurde ich jäh aus meiner romantischen Anwandlung gerissen. Erstaunt über die doch recht harsche Zurechtweisung, blinzelte ich gegen die Sonne und betrachtete den kräftigen Mann, der gemeinsam mit Sören Reinbeck entspannt, fast möchte ich sagen, lässig an der Tür eines Oberklasse-SUV lehnte. Offensichtlich hatten beide amüsiert mein pseudo-erotisches Treiben verfolgt und . . .  wahrscheinlich noch gerade im rechten Augenblick unterbrochen, denn kaum ausgesprochen, schüttelte „Schmusebär Dagobert“ seinen Schädel derart kräftig, dass ein, ihn umschwirrender Fliegen- und Bremsenschwarm erschrocken auf Distanz ging. „Aber lieber Herr Thomas“, denn nur um den konnte es sich bei dem Warner handeln, ging ich auf seine etwas legere Art ein. „Warum gönnen Sie einem älteren Heimatschriftsteller nicht das bisschen Freude?“ „Ich bin Steffen, ‚Dicker Kaiser‘“ (so stellte ich mich früher selbst vor), spielte er auf mein einstmals so ausgeprägtes barockes Erscheinungsbild an. Woraus ich schlussfolgerte, dass mir selbst hier, mitten im Hainich, noch immer ein Bekanntheitsgrad vorauseilte, der mich eigentlich von voreiligen und vor allem allzu romantischen Handlungen abhalten sollte. Was mich jedoch weder im Laufe dieses Tages – und wie ich hoffe, auch in unabsehbarer Zukunft – nicht davon abhalten wird, meine kleinen satirischen Marotten auszuleben.  Und als solche möchte die, zugegebenermaßen etwas geschauspielerte, erotische Annäherung an einen rund 1200-Kilo-Limousin-Bullen auch gewertet wissen. Natürlich war mir bewusst, dass ich mich weder in die Augen von Ilsa Lund, alias Ingrid Bergmann, vertieft hatte, noch mich in Casablanca befand. Der Ort meiner sinnlichen Begegnung liegt, wie erwähnt, nahe Frankenroda, auf einer Weide mitten im tiefsten Hainich. Nachdem mich Steffen Thomas – wir hatten unsere Konversation sofort auf das vertraute Du umgestellt – vor den Gefahren im Umgang mit Rindviechern auf offener Weide gewarnt hatte, fiel der Abschied von „Dagobert“ naturgemäß etwas distanzierter aus.

„Eine Weide ist kein Streichelzoo. Rinder sind (auch wegen ihrer tagsüber etwas verminderten Sehkraft) schreckhaft und entwickeln bei Missbehagen unglaubliche Kräfte. Einen Bullen zu streicheln, grenzt an Tollkühnheit. Er könnte auf die Idee kommen, sein Revier und seine Herde verteidigen zu müssen“, klärte mich der erfahre Landwirt auf und degradierte damit meine erotische Annäherung an „Dagobert“ zur bodenlosen Dummheit. „Deine fast hautnahe Begegnung mit „Dagobert“ hätte also leicht ins Auge gehen können. Immerhin standen wir ja für schnelle Hilfe bereit. Und wollten Dir auch nicht die Illusion rauben.“  Obwohl Steffen Thomas wie auch Sören Reinbeck regelmäßig die Weide besuchen, hatte ich bemerkt, welche Vorsicht die beiden erfahrenen Landwirte walten ließen, als sie sich der Herde näherten.

„Bei so viel Sorgfalt und Liebe zum Rind . . . steht bei Euch eigentlich auch Rindfleisch auf dem Speisezettel?“ Beide erhoben gleichzeitig erstaunt den Kopf. „Warum nicht“, konterte Sören meine Frage. „Nur bei entsprechendem Absatz kann ein Züchter seine Herde weiterentwickeln. Außerdem betreiben wir keinen Gnadenhof. Bei aller Liebe und Fürsorge: Wir arbeiten, damit die Menschen sich ordentlich ernähren und wir dadurch auch Gewinne erwirtschaften können.“ Steffen Thomas nickte zustimmend. „Alle Versuche von sogenannten Tierschützern, die Tierhaltung zu diskreditieren, sind oft Augenwischerei, hinter denen sich oft handfeste Eigeninteressen verstecken.“ Wieder zustimmendes Nicken von Steffen. "Wer versucht, uns den Verzehr eines deftigen Rinderbratens oder unserer Sonntagsrouladen als politisch unkorrekte Handlungen auszulegen, ist herzlich gern zur Diskussion eingeladen“ meint der Geschäftsführer. „Manchmal wissen die Menschen wirklich nicht, was für einen Stuss sie wiedergeben, der ihnen von Leuten eingehämmert wird, die unter dem Deckmantel des Gemeinwohles, ein für die Landwirtschaft gefährliches Ziel verfolgen. Will das nicht weiter ausführen, doch bei einigen Überlegungen hinsichtlich der Zukunft unseres Berufes stehen mir schon die Haare zu Berge. Zum Beispiel bei der Aussage, dass das Furzen der Rinder eine der Hauptursachen für den Klimawandel sei.“ Sören hatte sich ganz schön in Rage geredet. „Aber auch ein gut gebratenes Rindersteak oder ein frischer Tatar sind doch derart traditionelle Bestandteile unserer Thüringer Esskultur, dass ihre Abschaffung auch den Verlust unserer Identität bedeuten würde“, ergänzte Steffen Thomas.

Da wurde mir plötzlich klar, was bei uns heute Abend auf den Tisch kommen würde: Ein Tatar mit frischem Roggenbrot. Bei aller Zuneigung für Dagobert & Co – einfach unwiderstehlich. Dazu die allseits beliebten Hainich-Gürkchen und... ein Bilderbuchtag würde seine Vollendung finden. Der übrigens seine Fortsetzung fand, denn wenige Minuten nach unserer ernsten Diskussion steuerten wir die nächste Station an. Sie alle aufzuzählen, würde sicherlich langweilen. Einige jedoch sind so grandios in eine so heile Natur eingebettet, dass ich ganz einfach davon schwärmen m u s s. So wie über die Sommerweide auf dem Sperlingsberg. Die dort grasende Rinderherde ist derart harmonisch in eine alpenvorlandähnliche Landschaft eingebunden, dass es wert wäre, sie von einem Kunstmaler auf Leinwand verewigen zu lassen. Ganz zu schweigen von der fantastischen Sommerwiese hinter Hallungen. Dort grasen die Rinder inmitten einer solchen Vielfalt von Kräutern, dass ich mir vorgenommen habe, beim nächsten Besuch eine Thermoskanne heißes Wasser und ein Teeglas mitzubringen, um mir dort einen frischen Heilkräutertee aufzubrühen.

Vielleicht treffe ich Sie ja dort und könnte Ihnen etwas über die Vorzüge des Hainich-Rindfleisches erzählen. Wie gesagt: Vergessen Sie Ihr Teeglas nicht.

Das Rezept zum Tartar finden Sie hier: www.hainichkonserven.de

Ihr Tester

Matthias Kaiser