Die Hainich-Saga von Matthias Kaiser - Viertes Kapitel

Tagesparole: "Schattenmorelle"

Als mich an einem frühen Morgen des wetterlaunischen 21. Juli entgegen aller Prognosen unerwartet die Strahlen der aufgehenden Sonne weckten, packte ich kurzentschlossen meine Siebensachen und setzte mich erneut in Richtung Vogtei in Bewegung.

Tagesparole: Schattenmorelle" - hinterließ ich eine Nachricht für mein stets um diese Zeit noch schlummerndes Eheweib. „Fahre zu Martin. Bringe Kirschen mit – heute Abend Marmelade.“ Wobei es sich um jenen Martin Weißenborn handelte, den ich Ihnen erst kürzlich als den Wächter der Hainich-Weißkohlköpfe vorgestellt habe. Dass dieser Martin obendrein auch noch Schattenmorellen-Verantwortlicher der TUPAG ist, erfuhr ich indes erst kürzlich. Doch ich ahne, dass weitere Überraschungen hinsichtlich seiner Aufgaben und Fähigkeiten folgen werden.

Hinter dem Neuen Friedhof von Mühlhausen bog ich auf die nach Eisenach führende L2104. Nach drei Kilometern, also kurz vor dem Abzweig, der in die Gemeinde Oberdorla führt, an dem übrigens einst der inzwischen geschleifte Gasthof „Gunzelhof“ stand, bog ich  – einem Weißenbornschen Link auf dem Handy folgend – auf einen Feldweg ein. Nachdem ich ein großes Tor passiert hatte, standen plötzlich tausende Sauerkirsch-Bäumchen Spalier. „Ehre, wem Ehre gebührt“, dachte ich belustigt ob dieser gärtnerischen Ehrenformation. 

„Weißt Du denn eigentlich, was Schattenmorellen sind?“, hatte mich Martin vor zwei Wochen, mehr neckend als ernst zu nehmend am Telefon gefragt, nachdem man mich gebeten hatte, dieses erfolgreiche Obstanbau-Engagement der TUPAG zu besichtigen.Tief durchatmend hatte ich damals mit schauspielerischer Empörung die beleidigte Leberwurst gespielt: „Glaubst Du, mein lieber Scholli, dass ich auf der Wurschtsuppe daher geschwommen bin“, blaffte ich. Wohl wissend, dass Martin diesen Spruch richtig deuten würde - wusste er doch, dass ich Spross einer Mühlhäuser Fleischerdynastie war. „Na ja, frage sicherheitshalber lieber mal nach“, meinte er.

Unterwegs hatte ich mich vorsichtshalber bei Martin Weißenborn rückversichert, ob er trotz meiner spontan geplanten Visite Zeit für mich habe. Er bejahte und als ich durch besagtes Tor fuhr, sah ich ihn  ein  paar Meter davon entfernt intensiv mit einem kleinen drahtigen Mittvierziger diskutieren. Vorsichtshalber verharrte ich erst einmal im Hintergrund. „Komm ruhig näher“, forderte mich Martin auf, nachdem er mich bemerkt hatte. „Darf ich Dir Dénes vorstellen?“ Durfte er natürlich. Wenig später wusste ich, dass Dénes Albert Sándor ein Ungar war, der jedoch in Rumänien lebt und pünktlich im Juli eines jeden Jahres mit einer bunt gewürfelten Mannschaft fleißiger Erntehelfer in der Vogtei auf der Matte steht, um bei der fast fünfwöchigen Sauerkirschernte zu helfen.

Dabei übernimmt der Deutsch sprechende Sándor, immerhin schon in der 11. Saison, nicht nur die Fahrerkabine des gewaltigen Traktors, sondern vor allem auch die Kommunikation zwischen seiner Pflückertruppe und dem langjährigen Chef und Produktionsleiter auch dieser TUPAG-Obstplantage, Jürgen Dorfner. Ihn übrigens auf ein Foto zu bannen, gestaltete sich so aussichtslos wie ein ähnliches Vorhaben mit einer alternden Hollywood-Diva. Da hilft weder Barmen noch Betteln. Obwohl letzteres hier scheinbar früher Gang und Gäbe war, denn an der Plantage führt seit Alterszeiten der sogenannte „Bettelmannsweg“ vorbei. Ein späterer Blick in die Flurkarte und in die dazugehörigen Kommentare verriet indes, dass diese Flurbezeichnung nicht im Zusammenhang mit Bettelmännern stand, sondern ihren Namen dem Umstand verdankt, dass früher auf diesem Wege „Büttel“ die zum Tode Verurteilten zum Galgen führten. Was die Sache mit dem Wunsch nach Fotos überhaupt nicht tangierte. Schon gar nicht erleichterte.

Jürgen Dorfners Frau Petra reagierte auf meinen Wunsch nach einem Foto hingegen mit charmanter Gelassenheit. „Aber nur zusammen mit meiner Kollegin Isa und dem Mirek.“ - einem ebenfalls langjährigen polnischen Mitarbeiter. Für das Foto posierten sie natürlich vor reifen Schattenmorellen. „Wir sind hier sozusagen das Obstbau-Urgestein. Haben als Lehrlinge vor über vierzig Jahren am Bettelmannsweg schon Erdbeeren gepflückt“, ließ mich Isa im Bewusstsein ihrer Unabkömmlichkeit wissen.

Ebenso problemlos verliefen übrigens auch die Foto-Verhandlungen mit den beiden Pflückerinnen Noémi und Kinga. Die jungen Frauen sind ebenfalls eingeschworene Mitglieder des Dénes-Clans und stürzen sich heuer zum vierten beziehungsweise zum zweiten Mal in die Oberdorlaer Kirschenschlacht.

Beide erwischte ich an diesem Tage auf einer Kirschbaum-Rüttelmaschine - einer Weiterentwicklung der Oberdorlaer Obstbauern, die die empfindlichen Früchte besonders sorgsam vom Baum rüttelt, denn die immerhin 35 Hektar am Bettelmannsweg mit der Hand zu pflücken, wäre unmöglich. Wenn man davon ausgeht, dass auf jedem Hektar rund 750 dieser Bäumchen stehen – also roundabout 26.000 – müsste man sicherlich auch bei höchstmöglichem Personaleinsatz bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag pflücken, um alle Kirschen zu bergen. Vom Zustand der Früchte nach einem so langen Zeitraum mal ganz abgesehen.

Da reichen die im Obstbauer-Jargon genannten Kirschwochen nicht aus, die Anfang Mai mit der Süßkirschenernte beginnen und sich bis in den August hinein erstrecken. Übrigens nicht der einzige Standort, an dem die TUPAG erfolgreich Schattenmorellen anbaut. Mit insgesamt achtzig Hektar auf denen das köstliche Steinobst angebaut wird, ist man einer der Big Player in Deutschland.

Als dann die beiden jungen Erntehelferinnen zur Mittagspause vor mir standen, hinterließen sie trotz ihres soeben durchlaufenen hohen körperlichen Einsatzes einen derart fitten Eindruck, dass ich vermute, sie ernähren sich in den Erntewochen hauptsächlich von Schattenmorellen. Diese kalorienarmen Kirschen sind so unglaublich gesund, dass dagegen zahlreiche der vom Handel hochgelobten und protegierten – und deshalb meistens völlig überteuerten – Vitaminspender vor Neid erblassen müssten. Vor allem ihr hoher Anteil an Vitamin C und B sowie nicht zuletzt von Folsäure verwandelt sie zu wahren Vitaminbomben. Und die nächste frohe Botschaft lässt nicht lange auf sich warten: sogar im Glas stehen Schattenmorellen in punkto Vitaminen und Nähstoffe den frischen kaum nach. So enthält 1 Kilo so konservierter Schattenmorellen ebenso viel Calcium (170 mg) wie frisch gepflückte.

Plötzlich stand Martin Weißenborn neben mir.

Auf dem Arm hatte es sich sein fünfjähriger Sohn Jacob bequem gemacht. „Mein Sohn besucht mich öfter auf der Plantage. Vielleicht setzt er ja einmal unsere Familientradition fort“, spielte er auf seinen Vater Eberhard an, einen der Mitbegründer des erfolgreichen Vogteier Obstanbaus, der seinen Sohn bis heute berät, wenn er Fragen zur Vermehrung und Veredlung von Obstgehölzen hat. Mit Erfolg, wie ich später erfuhr, denn nicht nur die 26.000 Schattenmorellen-Bäumchen am Bettelmannsweg sind Eigengewächse.  

Wobei die Oberdorlaer Obstbauern schon in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts ein besonderes Liebesverhältnis zur Schattenmorelle entwickelten. Eine Tradition, welche die TUPAG nach der Wende noch intensivierte, denn nicht nur auf den, wie oben schon erwähnten 35 Hektar am Oberdorlaer Bettelmannsweg, sondern auch auf rund fünfzig weiteren Hektar hat man sich der Prunus carasus sunsp. acida, der Großen Langen Lot- bzw. Nordkirsche verschrieben, die schon anno 1650 in Frankreich als „Chatel Morel“ oder „Griotte du Nord“ erstmals urkundlich erwähnt wurde und sicherlich auch im Gefolge Napoleons die deutschen Gefilde eroberte.

Fehlt eigentlich nur der Kommentar meiner Großmutter Nelly, die einige meiner Leser sicherlich schon vermisst haben. „Die saftigsten und reifsten fressen die Vögel“, lautete ihr Wahlspruch und sie riet, diese „schattigen Morellen“ in einer Art von Wettstreit mit Amseln und Staren ein wenig vor der Reife zu pflücken, um sie anschließend sofort zu verarbeiten. Nicht zu vergessen die Wespen, die völlig emotionslos jeden stachen, der ihnen die besonders reifen Früchte stibitzen wollte - von denen übrigens am Tage meines Besuches keine einzige die Plantage ansteuerte.

Da indes nur einer dieser Kultbäume in unserem Garten stand, fiel die Ernte immer etwas kümmerlich aus.  Was überdies auch dem Umstand geschuldet war, dass auch Nelly die gesundheitsfördernden Eigenschaften dieser erst bei voller Reife dunkelroten Früchte kannte. Sicherlich der Hauptgrund dass sie schon während des Pflückens eine nicht ganz unerhebliche Menge in „Vor-Ort-Medizin“ verwandelte. Der kümmerliche Restertrag hingegen reichte dann weder für Konfitüre noch für die großen runden Blechkuchen, für die Thüringen neben Klößen und Bratwürsten bis weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Die wenigen, die Ihrem Gesundheitsdrang entkommen konnten verwandelte sie jedoch in unvergleichliche Kaltschalen. Die in den schon damals heißen Julimonaten meiner Kindheit eine derart große Wohltat waren, dass ich Ihnen unbedingt das Rezept verraten möchte: www.hainichkonserven.de

 

Ihr Tester

Matthias Kaiser