Die Hainich-Saga von Matthias Kaiser - Zehntes Kapitel

Eine köstliche Liaison: Hainich-Gürkchen küsst Hering 

Wie so oft gibt es zwei Nachrichten:

Eine gute Nachricht und eine weniger gute Nachricht. Wobei ich das Wort „schlechte“ bewusst vermeide. Dieses Unwort, so lehrte mich meine Großmutter, bringe zu viel Unruhe in unser Leben und ein solcher Gemütszustand beeinträchtige klares Denken.

Also zuerst die gute Nachricht: die in Niederdorla ansässige Hainich Konserven GmbH wird die hochgeschätzte Kundschaft auch im neuen Jahr weiterhin mit köstlich konservierten Gürkchen verwöhnen. Ob Gewürzgurken, Cornichons oder Senfgürkchen, als Häppchen oder am Stück, keines der sechzehn, seit Jahrzehnten überaus beliebten Qualitätsprodukte wird aus dieser Angebotspalette des Genusses verschwinden.

Wirklich eine gute Nachricht, nun aber die weniger gute Nachricht, die besagt, dass vor nunmehr drei Jahren, in der Vogtei der professionelle Gurkenanbau von der TUPAG-Holding-AG – einem der letzten namhaften Gurkenanbaubetriebe Thüringens – vollständig eingestellt wurde.

Was nicht nur die Frage nach dem Warum, sondern auch die, nach der neuen Bezugsquelle für die „regionale“ Spezialität aufwirft. Wobei man sicher davon ausgehen kann, dass die TUPAG keinen Schnellschuss abfeuerte, als sie das Gurken-Anbau-Aus verkündete. Wie damals aus einer Pressemitteilung zu erfahren war, wurde dieser doch recht einschneidende Schritt vordergründig mit fehlender Wirtschaftlichkeit begründet. Vor allem die steigenden Lohnkosten zwangen förmlich zu diesem Rückzug. Von der Aussaat bis zur Ernte will so ein Gürkchen nämlich ständig verhätschelt und betätschelt werden.

Da sind fleißige Hände gefragt, denn so ein Gurkenfeld wird nicht wie bei Weizen oder Kartoffeln an einem Tag abgeerntet, sondern – je nach Reifegrad – in mehreren Etappen. Und fleißige Hände – mal ganz davon abgesehen, dass die nicht am Gurkenfeld in Habachtstellung warten – bestehen zu Recht auf angemessene Vergütung.  

Auch die durch den Klimawandel beeinflussten nicht ganz so optimalen Vegetationsbedingungen in der Vogtei spielten bei dieser Entscheidung sicherlich eine nicht unerhebliche Rolle. Da sind beispielsweise so große Anbaugebiete wie der Spreewald und vor allem Niederbayern klimatisch klar im Vorteil. Ja, Sie haben richtig gelesen: Nicht der Spreewald, sondern Niederbayern ist der größte Einlege-Gurken-Produzent Europas; bekommt die Gurke doch in den bajuwarischen Niederungen jene drei Dinge, die sie am meisten mag: Wärme, Wasser und warme Nächte. Von dort kommt nun auch vorrangig der „Rohstoff“ für die Hainich-Gürkchen. So wie auch anderes zugekauftes Basis-Gemüse nicht aus osteuropäischen Ländern stammt.

Doch bevor ich Sie mit einigen vorweihnachtlichen Rezepten überraschen möchte, bei denen die sauer über salzig bis süßsauer eingelegten Konserven-Gürkchen die Hauptrolle übernehmen, wie gewohnt eine kleine Exkursion in die Historie:

Ursprünglich von den Indern vor rund 3.500 Jahren aus einer Art der Cucumis sativus var. hardwickii – einer wilden Kürbispflanze – domestiziert, wurde die Gurke schon im sechsten Jahrhundert vor Christi im heutigen Irak als Delikatesse gehandelt. Selbst im Alten Testament wird sie mehrfach erwähnt. Da wollten die alten Römer natürlich nicht zurückstecken. Der um die Zeitenwende lebende römische gelehrte Plinius der Ältere ließ uns beispielsweise wissen, dass sie das absolute Lieblingsgemüse des Kaiser Tiberius war. Was nicht ganz uninteressant für uns Deutsche ist, denn der sogenannte Gurken-Kaiser Tiberius übernahm im Jahre 4 n.Chr. den Oberbefehl über die Truppen in Germanien und drang immerhin während seiner Raub- und Eroberungsfeldzüge bis zur Weser vor. Unbeantwortet blieb jedoch bisher die Frage, ob Tiberius auf seinen Feldzügen seine hoch geschätzten Gurken mitführte. Was allerdings anzunehmen ist, denn schon damals gehörte vor allem die Saure Gurke zu den beliebtesten Delikatessen, die Arm und Reich gleichermaßen schätzten.

Wie erstaunlich professionell schon vor zweitausend Jahren die Römer mit den Gurken umgingen, beweist übrigens die Tatsache, dass sie schon damals eigens für den Salat professionell Schlangengurken, auch außerhalb der natürlichen Anbauzeit, in Glashäusern anbauten. Ob solche Gurken indes einst ebenso geschmacksneutral waren, wie heutzutage die unserer niederländischen Nachbarn, wurde leider nicht überliefert. Uns Thüringer verbindet mit der Gurke ein ähnliches leidenschaftliches Verhältnis wie es schon die Römer pflegten. Neben Rotkohl, Sellerie- sowie Rot- und Weißkrautsalat gehören sowohl frische wie auch konservierte Gurken zu unserem kulturellen Erbe.

Doch wir sprechen über eingelegte Gurken im Allgemeinen und jenen, mit denen die Hainich Konserven GmbH im Speziellen, seit Jahrzehnten ihre Kundschaft mit gleichbleibend intensivem (und vielleicht sogar in unseren Genen verankertem) Geschmack und gleichbleibender Qualität ihrer Gurken-Konserven. 

Und da Weihnachten und Silvester vor der Tür stehen, möchte ich einige Empfehlungen für Traditionsgerichte aussprechen, die Deutschland mit diesen beiden Feiertagen ebenso eng verbunden sind, wie der geschmückte Weihnachtsbaum und das Silvesterfeuerwerk. Wobei letzteres in diesem Jahr, dem Virus geschuldet, leider erneut nicht gezündet werden darf. Meine kleinen Rezepte hingegen können Sie sogar im Katastrophenfall selbst zubereiten. Rezepte, bei denen ich den Gewürzgürkchen einen geschmacklichen Weggefährten zur Seite stelle, ohne den Weihnachten und Silvester viel an ihrem Glanz verlören: den Hering.

Auch hier erlauben Sie mir einen kleinen Abstecher in die Geschichte dieses deutschen Kult-Fisches:

Noch in meiner Schulzeit galt der Hering als Arme-Leute-Speise. Sicherlich wurde nahezu jedem Mitbürger meines Jahrgangs, der eine DDR-Grundschule besucht hat, im Zuge der (versuchten) Sozialisierung, die Geschichte von der armen Arbeiterfamilie im Kapitalismus erzählt, die bei Kerzenlicht am Abend ihr trockenes Brotknüstchen aromatisierte, indem man es an einem einsamen grünen Hering rieb, der anschließend wieder weggepackt wurde, um bei der nächsten Mahlzeit dieselbe Prozedur zu zelebrieren. Erst nach dreimaligem Einsatz durfte er nach Auskunft unserer Heimatkunde-Lehrerin verzehrt werden. Was mich vermuten ließ, dass immer dann, wenn meine Großmutter Heringe – in welcher Zubereitungsart auch immer – auftrug, unsere Haushaltskasse an galoppierender Schwindsucht litt. So war der Hering seit frühester Kindheit für mich gleichbedeutend mit Armut und Anspruchslosigkeit. Andere Völker – andere Sitten. Während Menschen wie unsere Heimatkundelehrerin, den Hering als Armutssymbol des Kapitalismus im Klassenkampf darstellten, verehren ihn andere Völker als Sinnbild für Wohlstand und Luxus.

Ja, man muss sogar nach näherer Betrachtung der Geschichte resümieren, dass kein anderer Fisch die Geschichte Europas so nachhaltig beeinflusste, wie dieser schillernde Schwarmfisch, auf den man nicht nur in der Nord- und Ostsee, sondern auch im gesamten Nordatlantik bis hinauf nach Grönland trifft. Die ersten Europäer, die durch Heringsfang zu Wohlstand gelangten, waren die Dänen. Doch bald folgten andere Nationen. Was nicht ohne Folgen blieb, denn beim Rangeln um die ertragreichsten Fischgründe behandelte man die Konkurrenten nicht gerade mit Samthandschuhen. Als besonders brutal ging der Heringskrieg zwischen England und Holland in die Geschichte ein. Doch Heringskriege wurden auch in unseren Breiten, also im tiefsten Binnenland, ausgefochten. Erwähnt sei hier stellvertretend jener zwischen dem kleinen, wenig prunkvollen Städtchen Bernburg und der mächtigen Hansestadt Magdeburg, als der Streit um Zolleinnahmen anno 1426 in dem erbittert geführten Bernburger Heringskrieg mündete. Doch die Zeiten sind längst vorbei, als der Hering als Arme-Leute-Essen galt. Inzwischen gilt er als Delikatesse, was wohl auch daran liegt, dass die einst unerschöpflichen Fanggründe durch Überfischung und Umweltverschmutzung stark gefährdet sind. Wenn wir nicht rigoros unsere Einstellung zur Natur ändern, werden die Heringspreise, ähnlich wie beim Kaviar, wohl ins Unermessliche steigen.

Der Hering kann gebraten, mariniert, geräuchert oder gesalzen verspeist werden. Zum Braten eignet sich der rohe, sogenannte grüne Hering am besten. Den geräucherten Hering nennt man übrigens wie einen altmodischen Diener (Kratzfuß) „Bückling“. Wird ein Hering vor der Laichzeit gefangen, bezeichnet man ihn als Matjes. „Rollmöpse“ und „Russen“ sind in Essig marinierte rohe Heringe. Sie sind fester Bestandteil eines Katerfrühstücks. 

Hier finden Sie (Traditions-)Rezepte wie klassischen HeringssalatThüringer Heringshäckerle und deftigen Heringssalat mit Blutwust.

Ihr Tester Matthias Kaiser