Die Hainich-Saga von Matthias Kaiser - Elftes Kapitel

Apfelplauderei zwischen Sündenfall und Apfelmus

Keine andere Frucht vereint derart zahlreiche – und vor allem widersprüchliche – Attribute wie der Apfel.

Wobei die Palette der ihm zugeschriebenen Eigenschaften das gesamte Spiegelbild menschlicher Höhen und Abgründe umfasst. So steht diese nachweislich schon seit mehr als zehntausend Jahren von unseren Vorfahren gezüchtete Frucht aus der Familie der Rosengewächse sowohl für grenzenlose Leidenschaft, Lust und Liebe als auch für verabscheuungswürdige menschliche Entartungen.

Worauf auch der botanische Name hinweist - denn im Lateinischen heißt der Apfel „malus“, was übersetzt „schlecht, schlimm und böse“ bedeutet.

Beispiele gibt es en masse. Bekannterweise hatte der Apfel maßgeblichen Anteil am Sündenfall. Löste sogar den Trojanischen Krieg aus, als der trojanische Königssohn Paris im Auftrage des Göttervaters Zeus die Göttin Aphrodite mit Hilfe eines goldenen Apfels zur schönsten Frau der Welt kürte. Eine diffizile Aufgabe, für die ihm der alte Zeus die Hand der schönen Helena versprach. Die Crux an der Sache war nur, dass die schon mit Menelaos, dem König von Sparta verheiratet war. Als Paris seine Angebetete kurzer Hand nach Troja entführte, nahm die unheilvolle Geschichte ihren Lauf. Sie wissen schon: Diese seither als „Zankapfel“ bekannte Frucht endete mit der List des hölzernen Pferdes.  

Demgegenüber symbolisierte schon in der Antike der Apfel sowohl politische Macht und pralles Leben als auch weibliche Kraft und Fruchtbarkeit. Eine Symbolik, die Jahrhunderte später übrigens nahtlos von den mittelalterlichen Kaisern des Römischen Reiches übernommen wurde, als der Goldene Reichsapfel neben Krone und Zepter als dritte Insigne der herrschaftlichen Macht galt.

Neu war mir hingegen, dass der ursprünglich im kasachischen Tien-Shan-Gebirge beheimatete Wildapfel seine weltweite Verbreitung im Grunde genommen den Mammuts verdanken soll, für die der Apfel in der Steinzeit so etwas wie ein Leckerli war. Über den Dung transportierten sie seinen Samen über die Kontinente. Als die meisten dieser Tiere zum Ende der letzten Eiszeit ausstarben, verzögerte sich die Ausbreitung der Frucht übrigens erheblich.

Womit ich meine kleine Apfel-Plauderei beenden möchte. Wie gewohnt verzichte ich auf tiefschürfende wissenschaftliche Erklärungen. Für Interessierte gibt es eine Flut von Fachliteratur. Außerdem haben sich ganze Heere von Gelehrten, Dichtern und nicht zu vergessen Philosophen derart umfassend dem Thema Apfel gewidmet, dass ein Heimatdichter wie ich wohl nur belanglose Plattitüden hinzufügen könnte. Die noch dazu mangels flächendeckender Bekanntheit sicherlich keinen Hund hinter dem Herd hervorlocken würden.

Aus diesem Grunde gestatte ich mir nur als ein vom Apfel begeisterter Endverbraucher und leidenschaftlicher Koch einige Randbemerkungen:

Heutzutage, um es einmal mit einem Augenzwinkern auszudrücken, umweht den Apfel – in Mitteleuropa übrigens nach wie vor noch immer die meist verzehrteste Obstsorte; die Deutschen verspeisten 2019 21,9 Kilogramm pro Kopf – der Hauch von Frische, Kraft und gesunder Ernährung. Zahlreiche Werbeblogs werben für den kernigen „Durch“- Biss in den Apfel. Sei es, um die Fähigkeiten der Dentalmedizin zu beweisen, die hervorragenden Eigenschaften von Zahnpasta zu loben oder ganz allgemein die strotzende Gesundheit und Vitalität von apfelessenden Zeitgenossen zu demonstrieren.

Bedauerlicherweise liegt meine Zeit des kernigen Hineinbeißens schon ein wenig zurück. Trotz dentaler Drahtseilakte meines Zahnarztes verzichte ich – sicherlich auch aus Sorge wegen einer kostenintensiven Reparatur – lieber auf dahingehende Verlockungen. Was mir jedoch nicht schwer fällt, denn schon seit frühester Kindheit bin ich ein bekennender Apfelmusfanatiker. Eine Leidenschaft, die mir anscheinend in die Wiege gelegt und von meiner heißgeliebten Großmutter Nelly in einem Maße gefördert wurde, dass ich für den Apfel sprichwörtlich in den Krieg ziehen würde. Troja lässt grüßen.

Nellys liebevoll in Sütterlin verewigten Apfelrezepte und die Erinnerung an ihren leidenschaftlichen Umgang mit dieser köstlichen Frucht animierten mich übrigens auch, mich dem Thema „Apfel“ und speziell dem Thema „Apfelmus“ ausgiebig zu widmen. Wobei mein Augenmerk vornehmlich dem Apfelmus gilt, weil es aus meiner Sicht ein kulinarisches Schattendasein führt. Deshalb möchte ich Sie an dieser Stelle zukünftig hin und wieder mit Nellys Apfelmus-Kreationen überraschen.

Eines jedenfalls steht fest: Apfelmus ist nicht gleich Apfelmus. Da gibt es gewaltige geschmackliche, stoffliche und inhaltliche Unterschiede. Grund dafür, weshalb wir seit Jahrzehnten in unserer Familie alljährlich eine Apfelmus-Einweck-Orgie zelebrierten. Wir wollen bestimmen, was in unser Apfelmus kommt: es nach unserem Gusto würzen.

Ja, Sie haben richtig gelesen: zelebrierten! Und nun folgt eine Aussage, die mir noch vor einem Jahr nicht über die Lippen, geschweige denn aufs Papier, gekommen wäre: inzwischen bevorzuge ich Fremd-Apfelmus! Sie haben richtig gelesen: Fremd-Apfelmus.

Seit mich nämlich Alter und Corona mehr oder weniger dazu animierten, endlich wieder einmal meine engere Heimat zu erkunden, führte mich mein Weg nach Niederdorla, wo bekannterweise auch die Hainich Konserven GmbH beheimatet ist. Ihr stattete ich in meiner Eigenschaft als langjähriger Tester einen Besuch ab. Was zu einem gravierenden Umdenken führen sollte, denn unabhängig von der Tatsache persönlicher Vertrautheit und durchaus vorhandener Sympathien zu handelnden Personen, ließ ich mich – anfangs noch ein wenig skeptisch und ehrlicherweise auch nicht gänzlich ohne Eigennutz – auf eine Verkostung des Apfelmuses dieser Produktionsstätte der TUPAG-Holding-AG ein. Das übrigens aus dem Golden Delicious hergestellt wird, einer gelbgrünen Apfelsorte, die sich durch ihr süßliches Aroma zur weltweit wichtigsten Apfelsorte entwickelte. Ende des 19. Jahrhunderts in West Virginia erstmals gezüchtet, eroberte sie ab 1916 den globalen Markt. In der DDR nannte man diesen Apfel „Gelber Köstlicher“. (Ich meine, Kommentare hinsichtlich der Namensänderung erübrigen sich.)

Und siehe da, während der Verkostung überfiel mich, wie einst Moses das Feuer aus dem Dornenbusch, die Erkenntnis, dass auch anderer Mütter Kinder durchaus in der Lage sind, eine manufakturgleiche Qualität in hunderttausendfachem Gleichmaß zu erzeugen. So, dass auch ich mich seither dieser Konserven bediene. Was nicht heißen soll, dass wir gänzlich auf die traditionsreichen Einkoch-Rituale verzichten. Trotzdem: Das Hainicher TUPAG-Apfelmus ist eine Sünde wert. Womit sich ein Kreis schließt.

Immer, wenn ich für Nachschub sorge, kommt eines jener deftigen Traditionsgerichte auf den Tisch, mit denen Nelly, so wie Tausende von Großmüttern auch, ihre Sippschaft verwöhnten: den Thüringer Kartoffelpuffer!

Mit diesem Rezept möchte ich das erste Kapitel „Apfelmus“ schließen.

Gutes Gelingen wünscht Ihnen Ihr Tester

Matthias Kaiser