Die Hainich-Saga von Matthias Kaiser - Achtes Kapitel

Der Siegeszug der Rinderroulade

Als vor rund 1,8 Millionen Jahren eines der ersten Vorläufermodelle des Homo sapiens, der Homo erectus (aufgerichteter Mensch), sich erstmals mit einem brennenden Holzscheit erfolgreich einen Säbelzahntiger vom Leibe hielt, nahm die „humana Progressio“ - die menschliche Entwicklung - so richtig Fahrt auf.

Als vor rund 5500 Jahren möglicherweise ein Maya, ein Sumerer oder sogar ein Vorfahre Ötzis das Rad erfand - hier sind sich die Historiker noch nicht einig - bedeutete dies einen Quantensprung für die menschliche Mobilität.

Als Johann Philipp Reis den Mitgliedern des Physikalischen Vereins Frankfurt seinen berühmten Satz: „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“ durchs Telefon bellte (ich konnte mir diese Formulierung in Bezug auf Herrn Bell einfach nicht verkneifen), war das für die Kommunikation bahnbrechend.

Als der Pfarrer Friedrich Timotheus Heym in Effelder-Rauenstein (nahe Sonneberg) sich an einem Samstag im Jahre 1808 entschloss, zusätzlich zu seiner Sonntagspredigt auch noch das Thüringer-Klöße-Rezept seiner Haushälterin niederzuschreiben, war das sicherlich nur von regionaler Bedeutung. Als besagte Haushälterin jedoch zum sonntäglichen Kloß, neben einem Rinderroulädchen, auch noch warmes Rotkohlgemüse hinzufügte, setzte sie damit der Thüringischen - was sag ich, der globalen Entwicklung der Esskultur die Krone auf.

Kurz: Es war eine derart phänomenale kulinarische Hochzeit, dass zu ihrem Gedenken bis heute vor allem in unseren Gefilden einmal wöchentlich Rouladen oder Braten zusammen mit warmen Rotkohl auf den Tisch kommen.

Doch solche Preziosen des Genusses laufen Gefahr ausgerottet zu werden! Nicht nur, weil uns die oftmals vor allem auf Profit orientierte Lebensmittelindustrie (was keinesfalls sittenwidrig ist) weiß machen will, dass tiefgefrorene Pizza, Dosenravioli oder ähnliche Fließbandprodukte schmackhafter und gesünder sind, als unsere traditionelle Nahrung, sondern auch weil dadurch schlicht unsere guten alten und bewährten Essgewohnheiten ähnlich wie tausende Lebewesen, Pflanzen, ja sogar Bräuche und Riten sich plötzlich auf der Roten Liste des Artensterbens wiederfinden. Ein drohender Verlust, der unweigerlich zu einem kaum wieder zu reparierenden Mangel führen wird. Womit ich nicht den Mangel an Eiweißen, Kohlenhydraten, Ballaststoffen und Spurenelementen anspreche, die überdies der Fabriknahrung in einem solch reichlichem Maße zugeführt werden, dass die Menschen noch nie so alt wurden, wie heute. Nein, ich fürchte vielmehr um den Verlust unserer Erinnerungen und damit einhergehend um den Verlust eines Bausteins unserer menschlichen Identität.

„Sag mir was du isst und ich sage dir, wer du bist“ behauptete einst der französische Schriftsteller Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826) in seinem Lehrbuch der Tafelfreuden. Eine These, die bis heute Bestand hat. Und die ich gern dahingehend erweitern möchte, wenn ich feststelle: „Sag mir, ob du noch kochst oder ob du kochen lässt und ich sage dir, wer du bist.“

Kurz gesagt, ist der Umgang mit Essen und Trinken auch immer ein Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen. Wer von Kindesbeinen an gewohnt ist, seinen Hunger ausschließlich mit uniformen Fertigessen zu stillen, wird niemals wieder in der Lage sein, sich beispielsweise an die großmütterlichen Tafelfreuden zu erinnern. Was man nie kennenlernte, wird man auch niemals vermissen.

Weshalb ich vor allem junge Eltern auffordere, sich unabhängig von ihren köchelnden Fähigkeiten ihren Kindern ab und an einmal zu zeigen, wie man seine Nahrung zubereitet. Auch, wenn das Ergebnis, drücken wir es einmal vornehm aus - besorgniserregend schmeckt, wird es in der Erinnerung ihrer Kinder immer als mundendes Erlebnis in Erinnerung bleiben. Also auf zum Fleischer ihres Vertrauens und Rouladen gekauft –beim Gemüsehändler einen Rotkohl eingepackt oder - als zeitsparende Variante - ein Glas tafelfertigen Rotkohl gekauft. Was nicht nur Zeit spart, sondern ein wenig veredelt höchsten kulinarischen Ansprüchen gerecht wird.

Sie fangen an zu schwitzen? Haben selbst verlernt, wie man Rinderrouladen wickelt und schmort? Wissen nicht, wie man frischen Rotkohl kocht oder Rotkohl im Glas veredelt? Keine Angst: meine Rezepte werden Ihnen helfen, bei ihren Lieben unvergessene Erlebnisse auszulösen. Wie gesagt: unabhängig von ihren Koch-Fähigkeiten. Manchmal bestimmt der Weg das Ziel und nicht der Geschmack!

Für die meisten Thüringer ist eine Roulade jedoch ausschließlich ein deftiges Stück flach geklopfte, mit Speck, Zwiebeln und Gewürzgurke gefüllte und zusammengerollte Scheibe aus der Rindskeule - oder der Oberschale - auf die er zusammen mit Thüringer Klößen selbst bei tropischsten Außentemperaturen sonntags nicht verzichten möchte.

Dazu gehört auch der umwerfende Duft, der schon von weitem den Rouladenschmaus ankündigt und sollte irgendein Parfümeur auf die Idee kommen, eine „Creation de roulade“ zu entwickeln, gehört diese in Thüringen ganz bestimmt zu den weihnachtlichen Kassenschlagern.

Doch nicht nur in Thüringen, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum besitzt die Rinderroulade einen ähnlich hohen Stellenwert, so dass einige Mitmenschen vermuten, dass sie ihre Entstehung der Kreativität germanischer Küchenmaiden verdankt. Doch wie so oft bei leckeren Kreationen darf sich erneut die französische Küche mit den Federn des Patents schmücken, denn dort gehörten schon Anfang des 18. Jahrhunderts Rouladen, abgeleitet aus dem französischen Wort „rouler“, auf den aristokratischen Tafeln zum beliebten Repertoire einfallsreicher Köche.

 Da die französische Küche jener Epoche, ähnlich wie die „cusina italia“ sehr kalblastig war, wurden damals Rouladen vorrangig aus „plattierten Fleischscheiben der Kalbsnuss“ gewickelt. Ein solches Kalbsrouladen-Rezept beschreibt übrigens der von mir mehrfach zitierte Alexandre Dumas in seinem „Großen Wörterbuch der Kochkunst“. Er empfiehlt diese mit fettem Speck und Schinken zu füllen, verfeinert sie aber recht experimentierfreudig mit Gewürznelken, Zimt, Muskat, zerstoßenem Kardamom und Koriander - was mich mehr an den Honigkuchen meiner Großmutter Nelly erinnert als an ein Fleischgericht. Nicht genug der Abenteuerlichkeit, rollt er doch in seine Kreation filetiertes Kalbseuter und Kalbsbries. Delikatessen, die man heute leider Gottes nur noch auf Nachfrage bei seinem Fleischer erhält, da diese innerhalb unserer Essgewohnheiten kaum noch eine Rolle spielen.

Gegen solche geschmacklichen Erleuchtungen nimmt sich unsere Thüringer Rinderroulade regelrecht schlicht aus. Doch gerade in ihrer Natürlichkeit liegt, ähnlich wie bei zwei anderen unserer Kultgerichte - gemeint sind natürlich Gänsebraten und Thüringer Klöße - ohne Frage auch das Geheimnis ihres Erfolges.

Der Siegeszug der Rinderrouladen als Volksessen nahm im Übrigen seinen Lauf, als die Mehrzahl der Bauern vernünftigerweise damit begann, ihre Kälbchen zu mästen, statt sie in kindlichem Alter zur Schlachtbank zu führen. Dadurch gezwungen, auf Fleisch von erwachsenen Rindern zurückzugreifen, sollte sich diese Entscheidung als genialer Schachzug für die Bedeutung der Rinderroulade herausstellen. Plötzlich registrierten die Hausfrauen und Köche nämlich, dass die Sauce einer von ausgereiftem Fleisch zubereiteten Rinderroulade bei weitem herzhafter schmeckt, als die ihrer eher neutral schmeckenden Verwandten aus Kalb. So begegnen uns Kalbsrouladen heute fast nur noch auf den Speiseplänen der Diätküche, was wiederum ein wenig bedauerlich ist, denn raffiniert gefüllt, hat sie ohne weiteres eine Daseinsberechtigung für solche Menschen, die weniger robust speisen, als beispielsweise ein Durchschnitts-Thüringer.

Weil sie sich außerdem gut vorbereiten lässt und sich vorzüglich für die Bevorratung eignet, ist die Rinderoulade sicherlich auch in Zukunft nicht vom Aussterben bedroht und jedermann sollte sie ohne Reue, nicht nur wegen ihrer unwiderstehlichen Herzhaftigkeit, sondern auch aus Gründen des aktiven Artenschutzes, so oft wie möglich verspeisen.

Das Rezept zur klassischen Rinderroulade finden Sie hier: www.hainichkonserven.de 

Und natürlich auch das Rezept zum Rotkohl: Rotkohlgemüse nach Thüringer Art

Ihr Matthias Kaiser