Die Hainich-Saga - von Matthias Kaiser - Erstes Kapitel

Sauerkraut  Teil  I

Früher Samstagmorgen Mitte Juni. Nachdem es in der Nacht erneut wie aus Kannen gegossen hat, bequemt sich eine bis dato müde wirkende Sonne endlich, dem lang ersehnten Frühsommer auf die Sprünge zu helfen.

Ich bin in Thüringen auf Achse. Genauer gesagt fahre ich gerade durch Niederdorla, einem geschichtsträchtigen Dörfchen in der sogenannten „Vogtei“, das im touristischen Wettbewerb mit einigen anderen Gemeinden Deutschlands um den Titel „Geografischer Mittelpunkt Deutschlands“ ringt.

Nur ein paar hundert Meter entfernt, am Seebacher Stausee, will ich mich mit Martin Weißenborn treffen, seines Zeichens Geschäftsführer der Hainich Obst und Gemüse GmbH, einem Tochterunternehmen der im nahen Mühlhausen beheimateten TUPAG-Holding-AG. Wie der Vorstandsvorsitzende der TUPAG, Dr. Johannes-Werner Lange, mich am Telefon über Martin Weißenborn vorinformiert, handelt es sich um einen dynamischen, von brennender Leidenschaft zur Natur, beseelten Ur-Vogteier, der als Spross einer bekannten Obstbauerfamilie in die Fußstapfen seines Vaters gestiegen war.

Und der „eigentlich gar keine Zeit“ für die Fragen eines neugierigen Autors habe, selbst, wenn dieser ebenfalls in Mühlhausen geboren wurde. „Auch, wenn Sie seit über fünfzig Jahren mit kleinen Geschichten aus der Thüringer Heimat und als sogenannter Tester hauptsächlich mit kleinen satirischen Kolumnen über das oft skurrile Gebaren des Bewirtungsgewerbes und die Verirrungen und Verwirrungen in der Landwirtschaft schreiben, über die einige von denen, die sie aufs Korn genommen haben, nur schmerzhaft lächeln können". Er muss wohl mein verdutztes Gesicht gesehen haben und fügt erklärend hinzu: "habe ich alles nachgelesen". Womit er mich Ihnen, liebe Leser, unfreiwillig vorgestellt hat. 

„Mein Gott Kaiser“, grollte Martin Weißenborn durchs Telefon. „Besichtigung von Weißkrautpflanzen? Witz? Die Kirschen beginnen zu reifen, die halten mich auf Trab. Und Sie bestehen auf eine Flurbegehung?“ Womit er einen Punkt erreichte, wo ich erst einmal einiges klarstellen musste. „Zuerst einmal nur ‚Kaiser‘ und erwähne meinen Namen nicht im Zusammenhang mit dem lieben Gott. Einfach nur Kaiser, lieber Martin“ - wechselte ich ins vertraute Du. „Schon weit vor Deiner Geburt, genauer vor über fünfzig Jahren, haben deine Eltern und ich manches Bierchen getrunken.“ Und ich dachte dabei mit Grausen an jene lausig kalte Silvesternacht bei 15 Grad minus in den späten Sechzigern, als ich nach der Feier früh um drei gemeinsam mit meiner damaligen Verlobten mangels Taxi eine elf Kilometer lange Tour des Leidens auf eisglatter Straße von Oberdorla nach Mühlhausen absolvieren musste. „Ach ja“, stöhnte Martin mehr gelangweilt als interessiert. „Aber was hat das mit meinen Kirschen zu tun?“ Auch er ein Schelm? Warum er trotzdem zusagte, klärt sich indes in einer der nächsten Folgen von selbst.

Zweihundert Meter hinter dem „Blauen Wunder von Niederdorla“, einer Anfang der Achtziger des vorigen Jahrhunderts erbauten Gemüse-Lagerhalle, biege ich links ab und stehe eine Minute später auf einem Parkplatz, der einen fantastischen Ausblick auf den Stausee Seebach gewährt. Dort schnäbeln ungeniert zwei blütenweiße Schwäne und lassen sich durch meine Anwesenheit nicht stören. Apropos „Blaues Wunder“: dieses naturverschandelnde Bauwerk verdankt seinen Dresden-affinen Namen übrigens einer derart intensiven leuchtenden blauen Kriegsbemalung, dass man den damals ausführenden Architekten noch dreißig Jahre später für diese sozialistische Baudisharmonie ans Kreuz nageln sollte!

Eine Minute später schwenkt ein schwarzer Kombi auf den Parkplatz ein und ein energiegeladener Vierzigjähriger federt heraus. Er  lässt mich gar nicht zu Wort kommen und spricht mich schon im Anflug an. „Ich hätte sowieso nicht „Sie“ zu Dir gesagt, Matthias. Besonders, nachdem mir Vater Eberhard, er lässt dich übrigens herzlich grüßen, einige eurer Storys zum Besten gab.“ Er holt theatralisch Luft. „Na ja, später mal. Heute habe ich nur wenig Zeit. Also, was willst Du wissen?“

In den nächsten zwanzig Minuten absolviere ich einen Schnellkurs in Anbau und Verarbeitung des Weißkrautes im Allgemeinen und den Umgang mit dieser alten Kulturpflanze im „Hainich Obst und Konserven-Verbund“ im Speziellen. Ich erfahre, dass Martin für 1,8 Millionen Weißkrautköpfe, die er übrigens seine Zöglinge nennt, verantwortlich ist und diese verteilt auf sechzig Hektar, mit Blick auf Niederdorla, aufwachsen. Ende August bis Anfang Dezember geerntet, werden sie zu guter Letzt nur einen Steinwurf entfernt, er deutet in Richtung „Blaues Wunder“ - dessen Anblick mir wegen eines kleinen Wäldchens gnädig erspart bleibt, zu Sauerkraut verarbeitet. „Noch frischer und regionaler geht’s nicht.“ Ich muss ihm Recht geben, denn ich erinnere mich an die BIO-Gemüseabteilung in unserem Supermarkt. In einem schwachen Moment hatte mir der Verkaufsstellenleiter verraten, welche Strecken so manche Mohrrübe und mancher Apfel nicht selten bewältigtigen. Trotzdem werden sie mit  regional und BIO beworben. Gnädigerweise reißt mich Martin Weißenborn aus meinen abschweifenden Betrachtungen. „Seit einigen Jahren pflanzen wir hier ausschließlich Neuzüchtungen an - Sorten wie „Ramco“, „Liberator“ und „Typhoon“. Das sind aromatische Industrieweißkohle, die sich nicht nur durch ihre Standhaftigkeit und Kompaktheit auszeichnen, sondern sich auch hervorragend maschinell und damit verlustfrei ernten lassen. Mit ihrem Erntegewicht von 6 bis 8 Kilogramm je Kopf zaubern sie obendrein jedem Gemüsebauern ein Lächeln ins Portemonnaie". 

Vielleicht erahnt er plötzlich, was ich denke, als er meinen Blick über die mickrigen Blätter streifen sieht. „Keine Angst, das holen die bei Sonnenschein und genügend Wasser spielend auf. Übrigens hat das kühle und nasse Wetter auch seine Vorteile, denn auch die Schädlingspopulation leidet unter der Kälte, was wiederum zu einer gedrosselten Schädlingsbekämpfung führt". Plötzlich wird er unruhig - „ich muss jetzt" sagt er, dreht sich um und will verschwinden. „Auf ein Wort noch Martin: isst Du in dieser Jahreszeit Sauerkraut?“. "Eigentlich isst man in der Vogtei Sauerkraut mehr in der Herbst- und Winterzeit.“ „Mensch Martin, eure wunderbaren Konserven. Schon mal etwas Exotisches ausprobiert?“ „Kennst ja das Sprichwort: was der Bauer nicht kennt...Na schick doch mal ein Rezept. Whats App.“ Was ich hiermit erledige. Wenn auch nicht ganz so intim - denn Sie finden das Rezept hier auf der Internetseite unter der Rubrik "Rezepte" www.hainichkonserven.de.